Sehnsucht nach Sinn

Wallfahrtsorte haben ein Geheimnis, das Menschen anzieht. Nach Heimbach kommen jährlich 60.000 Gläubige – seit 550 Jahren. Sie sind bepackt mit Sehnsucht und Hoffnung, und sie glauben an die Geschichte, die sich um die Pieta in der Clemenskirche rankt, eine Geschichte, die immer wieder erzählt wird:  

Heimbach, im Sommer 2019

Regentropfen perlen an den Fenstern des Cafes  hinunter, die Rur in einen Nebelmantel gehüllt. Rasch überquert der Mann die Hengebachstraße. Das Haar strähnig-schwarz zurück gekämmt, ein Trenchcoat um den dürren Körper. Er stößt die Bistrotür auf und setzt sich an einen Tisch.
‚Franzose? Belgier?‘ denke ich. Er bestellt eine Tasse Kaffee und nickt mir zu: „Ich komme aus München“, sagt er auf sein Auto am Straßenrand deutend. „Mein Ingenieurbüro hat in Köln eine Niederlassung. Und wenn ich Zeit habe, mache ich gern einen Abstecher nach Heimbach.“
Er lächelt. „Wissen Sie, ich mag die Pieta hier in der Salvator-Kirche. An düsteren Tagen wirkt sie besonders geheimnisvoll. Die dunkle Kirche und die Madonna. Es sieht aus, als strahle sie golden über sich hinaus. Und dann diese Stille in der Kirche…“
„Ach ja, der Antwerpener Schnitzaltar“, sage ich. „Eine Kostbarkeit – berühmt im ganzen Rurtal.“
„Nein, nein, ich meine nicht den Altar. „Es ist die Schmerzensmutter selbst, die mich nicht loslässt. Eine einfache Arbeit. Volkstümlich. Klein. Aber ihr Gesicht, ihre Gestalt, ihre Innigkeit.“
Ich nicke und schaue auf die alte Steinbrücke über der Rur, die in den feuchten Schwaden zu schweben scheint. Ein paar Schulkinder mit roten Regenjacken ziehen schwatzend vorbei. Von Ferne läuten die Glocken der St. Clemens-Kirche.
„Diese merkwürdige Geschichte“, sagt der Mann. „Da ist dieser Strohdecker Heinrich Fluitter. Armselig ist er. Hoffnungslos. Ein kleiner Arbeiter, der nach Köln geht, um ein paar Habseligkeiten zu kaufen. In der Domstadt entdeckt er 1460 die Pieta und ist tief berührt. Er leiht sich neun Mark und kauft sie. – Seine Familie wird nicht begeistert gewesen sein. Also bringt er seine Madonna in den Wald, baut ihr ein schützendes Dach, schaut Tag für Tag, ob alles in Ordnung ist, entfernt sich mit jedem Gang mehr von den Seinen. Zieht irgendwann ganz in den Wald. Ein Außenseiter, der an seine Mission glaubt. Ein Gläubiger, der Menschen neugierig macht – bis heute. Mich fasziniert diese Leidenschaft für einen als richtig erkannten Weg. Dieses Wissen, das keinen Widerspruch mehr zulässt. Wie gerne würde ich das Geheimnis ergründen, wo in der Seele diese Kraft nistet, wirklich unbeirrbar seinen Weg zu gehen, ganz gleich, was die anderen sagen – und wie sie geweckt werden kann“, sagt er.
„Sind Sie ihrem Ziel näher gekommen?“ Er schüttelt den Kopf. „Ich werde weiter suchen. In guten Momenten spüre ich deutlich, was es ist, das Leben. Wissen Sie, in unserem Alltag haben wir den Himmel doch entzaubert. Aber dennoch: All die Menschen, die seit 550 Jahren nach Heimbach pilgern; sie kämen nicht, wenn sie nicht an die Magie des Ortes glaubten.“
Er lehnt sich zurück und schaut nach draußen auf die vor Nässe tropfenden Blätter. „Warum kommen Sie immer wieder?“ frage ich leise. Er zögert, schaut mich an und betont dann jedes Wort: „Ich will lernen, ganz mit mir zu sein. Ich will spüren, was mir wirklich wichtig ist jenseits von Termindruck und Erfolg. Vor diesem Altar habe ich Zeit, den Himmel in mir zu suchen. Hier übe ich mich in Disziplin, um mehr über mich und mein Leben zu erfahren. Diese mystische Aura der Kirche animiert mich dazu.“
Vorsichtig greift er in seine Jackettasche und zieht einen Zeitungsartikel heraus. Mit fetter blauer Tinte hat er einen Satz angestrichen: ‚Jahr für Jahr ziehen 60.000 Menschen zur Schmerzensmutter nach Heimbach‘.
„Seit 500 Jahren wird hier gebetet und gehofft. Welche Kraft muss sich hier versammelt haben. Und alle, die kommen, sind bepackt mit Fragen“, sagt er. „Stellen wir ein paar: Kann die Gottesmutter uns wirklich helfen oder hoffen wir nur, in ihrer Nähe etwas Ruhe zu finden? Haben wir eine bestimmte Aufgabe in dieser Welt – und wenn ja, welche? Wie können wir dem Tod begegnen und trotzdem leben? Wir hoffen auf Antworten und suchen einen Fluchtpunkt. 60.000 Menschen im Jahr meinen, ihn hier zu finden. Viele von ihnen erleben Freude – und sei es nur die Freude, den Pilgerweg geschafft zu haben.“
„So viel Aufwand für ein wenig Freude? Wer pilgert, will aufbrechen und aufbrechen heißt hoffen“, sage ich.
„Hoffen, wirklich hoffen, heißt wissen“, entgegnet er. „Wissen, dass jeder Augenblick die Wende bringen kann und dass jede Sekunde – tief und bewusst erlebt – das ganze Geheimnis birgt. Jetzt.“

4 Gedanken zu “Sehnsucht nach Sinn

  1. jaja. So ist unser menschliches Gehirn gestrickt: ewig auf Sinnsuche. In jüngeren Jahren hatte ich Gelegenheit, ein paar Länder, ein paar Kulturen, Mentalitäten und Ansichten kennenzulernen. Meine Kulturenliebe trieb ich so weit, dass ich mich darum bemühte, die jeweilige Landessprache so schnell wie möglich zu lernen. Immer hatte ich auf solchen Reisen besondere Begegnungen mit faszinierenden Menschen. Sie erzählten mir manchmal ihre Lebensgeschichten und manchmal erlebte ich eine Art Zauber mit ihnen, eine Art fremder Magie. Auch die Offenbarungshöhle des heiligen Johannes habe ich gesehen. Dabei war ich nicht alleine, mit mir standen viele Menschen in dieser Grotte. Direkt über mir klaffte dieser gewisse Lichtspalt, in dem Johannes die Vision der Offenbarung empfing. Innerhalb der halben Stunden verlor ich in kürzester Zeit mein Gefühl für Zeit. Hier, an diesem Ort, war sie stehen geblieben. Und die Luft war stickig und durchsetzt vom Atem vieler Menschen, sie war auch verbraucht. Während ich unter dem Spalt herumstand und diese Umgebung auf mich einwirken ließ, beobachtete ich diese Menschen. Ihre Gesichter leuchteten und es war dämmrig in der Höhle. Sie beteten und sie flehten und ich ahnte, dass die wenigsten, die zu diesem Ort hinkamen, frei von Bitten oder Wünschen waren. Dabei fragte ich mich ob der Ort es war, der dieses Kribbeln erzeugte oder ob es die Erregung vieler Menschen war, die sich hier auf mich übertrug. Es war eine friedliche Stimmung und ein Murmeln hing in diesem kleinen Raum. In der Luft schwebten Ave Marias in vielen Sprachen und andere Gebete, auf griechisch, auf französisch und weiß der Himmel wie vielen Sprachen noch. Doch alle diese Leute einte ein Geist und ein Glaube. Jedenfalls von denen, die ich beobachtete. Dies sind nur Auszüge der vielen Empfindungen, die mich durchliefen an diesem Ort. Es gibt Kraftorte auf der Erde, manche sind uralt und es ist als vereinten sich dort die Energien dieser vielen Gebete und Bitten, die Menschen dort hinterließen. Vielleicht ist es ein Echo, wer weiß?

    Auch dieses Mal las ich wieder fasziniert deine Geschichte. Ich bin ein großer Fan von Maria. Doch nicht als Sorgenmutter, jeder Mensch soll da glauben wie und was er will. In meinem Geist ist sie eine mutige und liberal eingestellte Frau, die ganz schön was aushalten musste. Mein Hut geht ab vor ihrem gundgütigen Lächeln.

    Feine Lesefreude, grüßt freundlich,
    Amélie

  2. Ja, liebe Amélie, diese Frage habe ich mir gestellt: Was macht es mit einem Ort, an dem die Sehnsucht der Menschen so heftig ausgelebt wird, seit Jahrhunderten. Sendet er Kraft aus? Schenkt er tatsächlich Hoffnung? Lohnt es sich, ihn zu besuchen?
    Der Legende nach kamen immer mehr Menschen zu Johannes Fluitter in den Wald. Und als der Zustrom gewaltig wurde, konnte 1487 das Kloster Maria im Wald, heute Mariawald, gegründet werden, wo die Madonna zunächst verehrt wurde.
    Was Maria betrifft: Ich bin evangelisch und habe mich immer nach einer Frauengestalt gesehnt. Deshalb schaue ich voller Interesse auf jede Form von Marienanbetung. So etwas ist ja „meiner“ Kirche fremd. Zum Trost habe ich Göttinnen geschenkt bekommen, aber das ist eine andere Geschichte, die in „Göttinnengeflüster“ ganz zart anklingt.
    Danke für Dein Interesse und liebe Grüße Ulrike

  3. Liebe Ulrike,
    María und der Pulk Heiligen sind serienmäßig seit Kindheit in mir installiert. Mein Glaube ist friedliebend, freiförmig und vor allem wertet er nicht zwischen Mann und Frau, es ist kein Männerglaube sondern einer, der an Menschen glaubt. Nicht nur sonntags um zehn in den Kirchen, die ich nur leer betreten kann.
    Wo finde ich Deine Göttinnen, könntest Du bitte mal mit einem Link winken…?
    Danke und
    Liebe Grüße,
    Amélie

  4. Aber gerne, liebe Amélie. Hier sind sie die Göttinnen.
    https://schwierenhoeger.com/2014/01/06/gottinnengefluster-6/

    Sie stehen übrigens steinern in Nettersheim in der Eifel. Ein Kultplatz, von Römern angelegt, der an die keltischen Göttinnen erinnert. Vielbesucht von Anhängern der Naturreligion, die hier auch Zeremonien feiern. Zur Sommersonnenwende fällt das Licht direkt in den Eingang des Tempels. Ein wirklich schöner Platz voller Geheimnis.

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