Mallorquinisches Tagebuch
Jeden Morgen das gleiche Bild: Die Sonne geht auf, und er geht über das Flachdach zu den Vögeln. Bedächtig schüttet er Körner in eine Schale aus brauner Keramik. Das Gefäß steht ein Stück weit vom Haus entfernt, einen kleinen Spaziergang weit. Er setzt sich auf einen Stuhl, gleich neben die Schale. Lange hockt er dort, ruhig, meditativ, die Vögel fest im Blick.
Erst wenn die Sonne zu intensiv auf das Dach brennt, steht er auf und geht zurück ins Haus, dessen Fensterläden immer geschlossen sind, Tag und Nacht. Efeu umwuchert die beiden Etagen, ein seltenes Gewächs in Porto Cristo. Es ist, als habe er mit dem Ranken ein Stück Norden hierher bringen wollen. Er und seine Frau, die Engländerin.
Zurückgezogen leben sie in ihrer „Villa Maria“, die mit ihrem Türmchen, den Rundbögen und dem umwucherten Balkon von alten Zeiten erzählt, als Mallorca noch viele solcher Häuser kannte, verspielt, verwunschen, romantisch, liebevoll gebaut, wie Kinder bauen würden, auf einer sonnendurchglühten Insel im Süden.
Sie hat eine Kneipe geführt, so wird erzählt, die Kneipe gleich neben dem verwunschenen Häuschen. Und er war Lehrer. Jeden Tag stand jemand vor dem schmiedeeisernen Tor, eine Mappe unter dem Arm, und wartete auf ihn und den Unterricht.
Er war weit gereist, sprach mehrere Sprachen, so wird erzählt, lehrte Spanisch, vielleicht auch Mallorquin. „Bringen Sie uns nette Leute hierher“, sagte er, als wir die ersten Worte wechselten. Das haben wir ernst genommen. Unsere Töchter kamen, unsere Enkel und die Freunde unserer Töchter, mit vielen kleinen Kindern. Sie tobten über das Plätzchen direkt vor dem Haus mit dem wuchernden Efeu.
Und wenn die kleine Emmi hier war, stellte sie sich auf den Balkon und wartete darauf, dass die Frau aus dem Efeuhaus gegenüber auf den Balkon kam. Dann winkten die Beiden sich über das Plätzchen hinweg zu und lachten: „Hola Emmi.“ – „Hola, hola.“
Sein Abschied begann mit einem Sauerstoffgerät. Ein Geländer wurde montiert, damit er besser die steile Treppe hinauf und hinab klettern konnte. Dann kam der Rollstuhl. Seine Frau schob ihn durch die Stadt, jeden Tag zur selben Stunde.
Wir nahmen von ihm Abschied mit einem Besuch bei ihr. In einem dunklen Wohnzimmer hockte sie in einem wuchtigen Sessel und beweinte die verlorene Zeit. Vorbei, all die Jahre in dem umwucherten Efeuhaus mit dem Mann, der morgens die Vögel fütterte.
Heute ist sie wieder in England, und in dem alten Haus wird gehämmert. Stunde um Stunde. Junge Männer arbeiten auf dem Dach, schauen aus den Rundfenstern, werfen sich Handwerkszeug zu. Die morschen Fensterläden sind gestrichen, der Schornstein ist verputzt, kaputte Ziegel sind neu gedeckt, Türen werden geschleppt. Irgendwo steht ein Herd, der auf den ersten Einsatz wartet. Überall Gewusel, Aufbruch.
Nur die braune Schale aus Keramik hat sich nicht verändert. Sie ist noch immer auf dem Flachdach, genau an der Stelle, neben der einst sein Stuhl stand. Verloren wirkt sie, vergessen im Nirgendwo zwischen Tod und Neubeginn. Die Bauarbeiter laufen um sie herum, mehrmals am Tag. Aber noch niemand ist auf die Idee gekommen, sie wegzunehmen.
Es ist, als ob das Gefäß dem Treiben eine Botschaft entgegensetzte, die von IHM kommen könnte: „Morgens bitte den Vögeln lauschen. Immer.“
PS. Ein großer Dank an Wolfgang Schiffer, der mir zum Text eine Zeile des isländischen Dichters Jón úr Vör geschickt hat:
„Eines Tages sagt der Tod zum Leben: Oh, gib mir deine Schale, Bruder.“
