Nur für Verrückte

Wie müde sehen alte Bücher aus, verblasst und gelbstichig, die Farbe auf dem Deckblatt verschmuddelt, zwischen den Seiten Staub. Hermann Hesses „Steppenwolf“ ist da keine Ausnahme. Gerade ist mir das Buch in die Hände gefallen, nach gefühlt 130 Jahren. Wie habe ich es durchwühlt, damals im ersten Jahr als Redakteurin. Aufs Land hatte mich die Kölner Zentralredaktion geschickt. Umgeben von provinzieller Ordentlichkeit, besuchte ich Schützenvereine und Dorffeste, um abends einsam in meinem Zimmerchen zu sitzen. Eine möblierte Frau mit nichts als diesem Steppenwolf Harry zur Seite. Wir beide wussten, was Einsamkeit ist.

Statt seiner Araukarie grüßte mich täglich ein bürgerlicher Gummibaum, der sich frisch abgestaubt und glänzend ins Flurlicht reckte. Mit Harrys Notizen „Nur für Verrückte“ begann mein Tag, mit ihnen schlief ich ein. Harry war mir nah, wenn er flüsterte: „Wunderlich, was der Mensch alles schlucken kann! Zehn Minuten las ich in einer Zeitung, ließ durch das Auge den Geist eines verantwortungsvollen Menschen in mich hinein, der die Worte anderer im Munde breit kaut und sie einspeichelt, aber unverdaut wieder von sich gibt.“

Dummerweise war ich es selbst, die solche Worte tagtäglich produzierte, zugegeben, tatsächlich oft unverdaut, denn das Tagwerk war hektisch, die Zeit knapp. So hoffte ich, dass Harry mir verzieh. Gut, dass er und ich damals noch nicht das Wort Fake-News kannten. Ich glaube, wir hätten die Welt noch mehr verachtet, zumal wir auf Suche nach einer anderen waren. Und die wurde Harry von Meister Hesse in geselliger Männerrunde (leider erzählt Hesse fast immer nur von Männern, aber das merkte ich erst später) präsentiert:

„Sie sehnen sich danach, diese Zeit, diese Welt, diese Wirklichkeit zu verlassen und in eine andre, ihnen gemäßere Wirklichkeit einzugehen, in eine Welt ohne Zeit. Tun Sie das, lieber Freund, ich lade Sie dazu ein. Sie wissen ja, wo diese andre Welt verborgen liegt, dass es die Welt ihrer eigenen Seele ist, die Sie suchen. Nur in Ihrem Innern lebt jene andre Wirklichkeit, nach der Sie sich sehnen. Ich kann Ihnen nicht geben, was nicht in Ihnen selbst schon existiert. Ich kann Ihnen keinen anderen Bildersaal öffnen als den Ihrer Seele.“

Bücher mögen altern, ihre Autoren sterben. Die Sehnsucht nach einer besseren Welt überdauert alle Zeiten. Macht mich das jetzt hoffnungsvoll oder hoffnungslos?

5 Gedanken zu “Nur für Verrückte

  1. das hast du sehr schön geschrieben, liebe alraune. verschmuddelt ist ein wort, das ich lange nicht gelesen habe und sehr mag. auch die schilderung deiner ersten jahre als redakteurin. alte bücher mit verschwindenden farben auf den titeln, die habe ich auch. hermann hesse habe ich auch einiges gelesen, aber bei mir hatte er keinen wirklich nachhaltigen effekt, aber so hat jeder seine/n autorin/autoren/innen. liebe grüße und komm gut ins wochenende.

    1. Danke für deine Zeilen. Mir fiel beim Blättern in dem alten Schmöker auf, wie viele Erinnerungen kamen. Das ist auch bei anderen Büchern so. Wir haben sie ja in einer bestimmten Zeit gelesen, in der wir für die Inhalte anfällig waren. Damals habe ich Passagen angestrichen, die mich zum Teil heute völlig ratlos machen. Da ist kein Bezug mehr. Trotzdem ist es hochinteressant, auf diese Weise ein Stück Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Was ist denn dein/e Lieblingsautor/in? Liebe Grüße Ulrike

      1. liebe ulrike, das kommt mir bekannt vor, das mit der anfälligkeit und den textstellen, die sich nach einiger zeit ganz anders lesen. so kann es auch sein, dass ein buch, dass einem mal überhaupt nicht gefallen hat, plötzlich gefällt oder umgekehrt.
        meine lieblingsautoren sind u.a. kafka und tomas espedal.
        lg, m.

      2. Ja, ist das nicht ein Phänomen? Mir scheint es manchmal, dass wir in anderen Lebensphasen andere Menschen sind mit einer völlig anderen Sichtweise auf die Dinge. Den „Steppenwolf“ würde ich heute nicht mehr lesen, die Sprache wäre mir zu sperrig. Aber Tomas Espedal. Das macht mich neugierig. Danke für den Tipp. Liebe Grüße

  2. Empfehlung Buch-Neuerscheinung: „Ausgesetzt zur Existenz“; Franz Sternbald

    „Nicht einmal Ich Selbst fasse das Ganze Meines Seins!“, bekannte der Kirchenvater Augustinus. Kann ich mir meiner selbst somit nicht mit letzter Gewißheit gewärtig sein, so ist möglicherweise der Eindruck gar einer Vielheit von Ichs in der Welt (und einer in sich geschlossen wahrgenommenen Einheit meines eigenen Ichs) auch nur eine Täuschung in der Befangenheit der Subjektivität unserer Anschauung.
    In der vedischen Philosophie wird, nicht vollkommen abwegig, gerade die Ausschließlichkeit prinzipiell sogar nur eines einzigen Ichs für die Gesamtheit des bewußten Seins behauptet. Es würde sich demgemäß also um ein absolutes Subjekt handeln, das durch seine irisierenden Fluktuationen den Eindruck einer Mannigfaltigkeit von Ichs erst erzeuge.
    Diese Annahme stünde damit in einer gewissen Analogie zu ‚Wheelers Elektron’, von dem gleichfalls behauptet wird, das einzige Elementarteilchen im Kosmos zu sein, und lediglich durch das Wellenfeld seiner Schwingungszustände die Materie jeweils an den Knotenstellen maximaler Wahrscheinlichkeiten seines Aufenthaltes aufweise, und somit den Eindruck einer Mannigfaltigkeit erst erzeugen würde. Dem müßte jedoch ein morphisches Konzept zugrunde gelegt sein, dergestalt, daß jede Information stets auch zu jeder Zeit und an jedem Ort präsent und abrufbar sei. Somit ließe sich auch die Korrespondenz von verschränkten Elementarteilchen in Zustand und Verhalten auch auf größere Distanz zueinander erklären.
    Diese Auffassung gründet bereits in der Natur-Philosophie der griechischen Vorsokratiker. Parmenides behauptet gleichfalls die Existenz nur eines einzigen ungeteilten und unbewegten Seins, und jede Wahrnehmung einer Teilbarkeit und Mobilität würde in sich selbst erklärt letztlich sogar zu inneren Widersprüchen führen ..

    Aufrichtig gesprochen, „Ich“ war niemals frei zu handeln,
    vielmehr handelte es sich .. in einer Gitterbox kausaler Bestimmtheiten.
    Wir können garnicht tun, sondern wir ereignen uns.
    Notwendig ist künftig eine praktische Existenzphilosophie zur Rechtfertigung des Subjekthaften gegen die Zudringlichkeit der Verobjektivierung.
    Sind wir zwar nicht eigentlich frei zu handeln, liegt unsere eigentümliche Freiheit dennoch auf dem Grund unseres Seins. Möglicherweise haben wir uns demnach den Käfig der kategorischen Gesetztheit selbst geflochten. Freiheit wurde auf dem Weg vom Sein in die Existenz zur Bestimmtheit. Allein im Bewußt-Sein ist somit die funktionale Verbindung von Freiheit und Bestimmung zu suchen.

    Mit dem Buch „Ausgesetzt zur Existenz“ fordert der Autor Franz Sternbald Sie auf: Holen Sie sich ihr ihre souvernäne Urteilsfähigkeit zurück; Werden Sie sich dessen gewahr
    Wer Ihr Ich eigentlich ist!
    „ Was soll nicht alles meine Sache sein …..,nur die meinige soll nicht meine Sache sein?! “

    Ich zu sein, vermag nur Ich selbst

    aber …

    Wer ist eigentlich ICH?
    Zu welchem Zweck behaupten wir ein subjektives Ego, und worin besteht ein objektiv legitimierender Sinn für die Forderung nach Anerkennung eines
    unbezähmbaren Geistes der uneingeschränkten Subjektivität {J.J. Rousseau, Bekenntnisse}

    Zu welchem Ziel strebt letztlich die Entwicklung der Selbstbewußtwerdung alles Lebendigen?
    In welchem überragend widerspruchsvollen Verhältnis steht das absolute Selbst zur Endlichkeit seines individuellen Daseins?
    Kierkegaard verstehen .. : “ Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält “
    Mit diesem Buch wird ein Deutungsversuch unternommen für das Ego als einem Ding, oszillierend zwischen Dualität und Polarität, von Identität und Alienation, von Eigentümlichkeit und Entfremdung,
    auf dem Weg von Mir zu Dir

    Von nun an wird Ich nicht mehr gezählt, sondern gewogen

    *

    Franz Sternbald
    „ Ausgesetzt zur Existenz “ – warum der Mensch ein Schicksal ist
    – vom Ausgang aus der unverschuldeten Absurdität –
    Verlag BoD; D-Norderstedt

    ***

    „Indem es es selbst sein will,
    gründet das Selbst in der Macht, die es gesetzt hat“
    {Sören Kierkegaard}

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