Eine Begegnung mit der Indianerin Twylah Nitsch
Ihr Haar war grau wie ein Büschel Stahlwolle, und sie redete gerne mit Mücken. Das hatte ihr Großvater Moses Shongo beigebracht, der letzte der Seneca-Medizinmänner. Mit seinem Wissen im Gepäck zog die Indianerin Twylah Nitsch uns in Bann. Im kanadischen Quebec war das, ganz nahe bei Montreal, im Dickicht eines brachliegenden Grundstücks, auf dem wir – ein paar Amerikaner und Europäer – in Zelten und Wohnwagen die Ferien verbrachten.
„Die weisen Indianer waren überzeugt, dass der Sinn des Daseins sich überall in der Natur zeigt“, sagte sie zur Begrüßung, schaute zufrieden auf uns und die Bäume ringsum und hockte sich ans Lagerfeuer. Ihre breite Stola fest um den Kopf geschlungen, tanzten die Flammen in ihren Augen, während sie diese Mücken beobachtete, die das Lager zu tausenden umschwirrten, sich blutdürstig auf jedes unbedeckte Hautstück stürzten und uns piesackten bis tief in den Abend hinein.
Zärtlichkeit lag in ihrer Stimme, während sie eines der Tierchen sanft zwischen die Finger nahm, auf ihren Handrücken setzte, wer weiß was vor sich hin murmelte, um es dann vorsichtig in die Luft zu pusten, als wolle sie ihm „Gute Reise“ nachrufen, ihm zeigen, dass es zu uns gehört, wie eine nette Schwester.
Am nächsten Morgen saß sie schon früh im Moos, auf das wir Kiesel legten – Stunde um Stunde, im weiten Kreis. „Seht euch die Zeichnung der Steine an. Die Dinge sprechen zu uns“, sagt sie. Wir schauten ratlos auf die Brocken, hockten uns zusammen, und jeder schleppte sein Stück Hoffnung in den Kreis, erzählte, wovon er träumte, bis er endlich schwieg und nur noch den Vögeln zuhörte und dem Rauschen in den Wipfeln.
Still legten wir die Hände um unseren Stein. „Nichts ist tot“, schoss es mir durch den Kopf, während ich fühlte und auf die Stille lauschte. Es war dieses Kinderglück, ganz einfach da zu sein, nicht zu fragen, nicht zu antworten und nicht zu denken. „Die Natur strahlt die Spiritualität der höchsten Macht aus“, sagte Twylah, „sie gibt uns den Weg vor, der einst die alten Senecas in die Stille führte.“

Am nächsten Tag war sie verschwunden. Wir suchten zwischen Zelten und Wohnwagen und fanden sie endlich tief im Wald, ganz dicht neben einem Bäumchen. Sie hielt das Ohr an seine Zweige, lauschte dem Wispern des Windes in seinen Blättern, streichelte sanft die Rinde und plauderte fröhlich mit dem Stämmchen. Dann hüpfte sie hoch, winkte uns herbei und rief: „Dieser Baum will wachsen. Pflanzt ihn auf die Lichtung.“ Niemand murrte oder widersprach. Nur Staunen stand in aller Augen: Schaut her, man kann mit Bäumen reden. Und – sie haben etwas zu sagen!
„Versucht es“, lachte sie. „Es ist ganz einfach. Zieht los und sucht den Mutterbaum. Für die alten Indianer drückten sich in Bäumen Persönlichkeiten aus. Die Anführer wurden zum Zeichen ihrer Würde und Integrität „Große Bäume“ genannt. Es gibt aber auch persönliche Bäume, die jeder einzelne sich selbst suchen muss, um Kontakt mit seiner inneren Kraft aufzunehmen. Bäume ziehen uns immer an, und wir fragen uns, worauf diese Anziehungskraft beruht.“
Wir nickten ergeben und zogen ins Dickicht, fest davon überzeugt, nichts zu finden, außer ein paar Schlingwurzeln und Dornen. Doch nach zehn Minuten standen wir atemlos vor einer Eiche: Zehn Stämme hielten sich fest umschlungen und verbanden sich triumphierend zur Krone. Am liebsten hätten wir getanzt, rund um das Gebilde. Und niemand zweifelte an seiner Kraft und Autorität.
Ich weiß nicht, ob Twylah dies wusste. Ich weiß nur, das war Twylah. Eine Frau wie viele Frauen, bepackt mit Wünschen, Sorgen, Problemen und Hoffnungen. Aber eine Frau, die sich den Mut zum Wundern bewahrt hat. Eine Indianerin, die mit Bäumen, Mücken und Steinen spricht, ohne dass jemand auf die Idee gekommen wäre, zu lachen.
Und vielleicht ist es ja lächerlicher, nicht mit ihnen zu sprechen.