Der Teufel mit dem Engelsblick

Um Burgen ranken sich oft gruselige Geschichten, die von Treue und Verrat erzählen. Die Genoveva-Sage hat über Jahrhunderte die Menschen berührt und wurde in vielerlei Varianten erzählt und gemalt. Beim Anblick der alten Steine der Genoveva-Burg in Mayen erwacht die alte Sage zu neuem Leben: 

Trier, um 750 n. Chr.

„Wie schön Sie sind“, flüsterte die Amme, trippelte um die Rocksäume und drapierte ein paar Schleifen. – „Ach, Charlotte“, sagte Genoveva. „Eigentlich steht mir nicht der Sinn nach all dem Tand. Es gibt Probleme im Brunnenviertel. Wir müssen Brot an die Armen verteilen.“
Ein Schatten böser Träume nistete in ihren Augen, während sie sich schmücken ließ, angespannt und abwesend. Lautes Klopfen durchbrach ihre Gedanken. Die Tür flog auf und Siegfried, der Pfalzgraf, stürzte herein. „Schlechte Nachrichten, mein Herz. Der Erzbischof ruft zum Kampf gegen die Sarazenen. Ich muss die Meinen sammeln.“ –Stunden später verbellten die heiseren Befehle der Wächter die Nacht. In den Unterständen türmte sich Gepäck, nervös tänzelten Pferde. An den Feuern erglühten Abenteuerlust und Angst.
Drinnen war es still. Genoveva und Siegfried lagen in ihrem Gemach, atmeten die Nähe des anderen, flüsterten über ihre Träume, liebkosten und küssten sich, geborgen in ihrer Welt, die sie sicher trug wie eine schwere Barke – noch eine Nacht.
Die frühe Sonne zerriss ihre Zeit. „Ich habe alles vorbereitet“, raunte er. „Bitte verweile bis zu unserer Rückkehr im Mayengau auf Schloss Semmer. Dort bist Du sicher. – Und beeile Dich. In einer Stunde bläst der Herold zum Aufbruch.“
Gefasst stand Genoveva wenig später vor den Rittern; gülden das weich fließende Gewand, wehmütig der Blick. „Gebt uns Euren Rat, wem sollen wir das Unsere anvertrauen und die Besorgung der Geschäfte übertragen“, fragte Pfalzgraf Siegfried seine Ritter. Und alle Blicke fielen auf Golo, den Edelsten unter ihnen, einen Blondschopf mit dem Gesicht eines Engels.
Laut stöhnend quittierte Genoveva die Wahl, doch Siegfried umfing sie zärtlich und scherzte: „Oh, Du mein schwaches Weib, sei mutig.“ Und er führte sie zu Ritter Golo, dem neuen Hauptverwalter von Schloss Semmer.
Dann ritt er davon und hinterließ Stille, Leere, Einsamkeit. Woche um Woche verstrich – ohne Botschaft. Genoveva suchte im Winterwald Zeichen der Hoffnung und betete in der Kapelle zur Mutter Maria. Doch Ruhe konnte sie nicht finden. Verzweifelt spürte sie das Leben in ihrem Leib, empfangen in der letzten Nacht mit Siegfried. Als sich zart-weiß die ersten Kirschblüten öffneten, lief sie rastlos über den Kies, vorbei an Wiesenflecken, an Apfelbäumen und Holundersträuchern. Da hörte sie ein Rascheln tief drinnen im Dickicht. Erschrocken fuhr sie herum und meinte, einen Schatten zu sehen. Sie blieb stehen. Nichts.
„Dummes Ding“, schalt sie sich. „Siehst überall Räuber. Hörst überall Gespenster.“ Doch die Unsicherheit wurde ihr Begleiter. Überall fühlte sie sich von gierigen Augen verfolgt; nichts schien ihr sicher. Jedes Knacken ließ sie hoch schrecken, ängstlich war sie und voll düsterer Ahnungen.
Eines Morgens versperrte Ritter Golo ihr den Weg; maß sie herausfordernd von Kopf bis Fuß. „Wir müssen uns häufiger treffen, werte Dame“, sagte er mit breitem Grinsen. „Die Geschäfte lasten schwer auf mir. Ich möchte mich mit Euch besprechen. Möglichst täglich.“
„Euch sind die Dinge übertragen. Wir haben nichts zu reden“, sagte die Pfalzgräfin barsch. –
„Aber wir könnten uns gemeinsam die Zeit vertreiben…“
„Du leichtfertiger Diener“, schrie sie und eilte zurück zum Schloss.
Doch es gab kein Entkommen. Golo suchte ihre Nähe und verlor jeden Respekt. Um sein Ziel zu erreichen, erdachte er endlich eine skrupellose Lüge: Früh am Morgen stürmte er atemlos in ihr Empfangszimmer und schrie: „Ich habe Nachricht, dass der Pfalzgraf mit seinem ganzen Heer auf dem Meer umgekommen ist. Wir werden niemanden wiedersehen.“
Zum Beweis reichte er ihr eine Urkunde.   Genoveva schluchzte auf. Nirgends sah sie Hoffnung für sich und ihr Kind, nirgends ein Licht. Um Hilfe suchend lief sie zur Waldkapelle, kniete betend vor dem Altar. Plötzlich schien es  ihr, als spreche eine klare eindringliche Stimme zu ihr: „Sei unbesorgt. Der Pfalzgraf lebt.“
Gefasst ging Genoveva zurück aufs Schloss. Doch schon an der Pforte sah sie Golo – mit herausforderndem Blick: „Du weißt, dass unser Herr gestorben ist und die Provinz nun unter meiner Herrschaft steht mit allem, was dazu gehört. Ich will Dich zu meinem Weibe nehmen.“ Er versuchte, sie zu umarmen, doch sie schrie auf und schlug ihm die Faust ins Gesicht.
Weiß vor Wut wandte er sich ab und zögerte nicht lange: Er gab Befehl, sie zu verstoßen. In einer abgelegenen Kammer solle sie hausen, allein ohne Diener und Freunde.
Genovefa fügte sich – still und ergeben. Als die Stunde der Geburt näher kam, kauerte sie angstvoll auf ihrer Pritsche. Plötzlich hörte sie an der Tür ein leises Rascheln. Entsetzt zog sie die Decke über den Kopf, sah den Lichtstrahl, der ins Zimmer fiel.„Fürchte Dich nicht“, raunte eine Stimme. „Ich will Dir helfen.“
Die Tür öffnete sich und ihre Amme trat ein. Wenig später hielt Genoveva ihr Kind in den Armen, einen gesunden hübschen Jungen, der ihr fortan die Einsamkeit erhellen sollte.
Als der Sommer den Himmel prächtig weitete, klopfte es erneut an ihre Tür: „Darf ich eintreten?“ fragte eine leise Männerstimme und ein Bote Siegfrieds stand im Rahmen:„Ich soll Euch Nachricht geben, dass der Pfalzgraf lebt“, sagte er. – Genoveva war  überglücklich. „Und – wo ist er?“ „In Straßburg. Viele seiner Ritter sind gefallen. Aber er wird bald wieder zuhause sein.“
Auch Golo hörte die Nachricht, und er eilte verzweifelt durchs Haus, auf Suche nach einem Ausweg, der ihn schützen konnte vor seinem Verrat.
Kurz vor Mitternacht trieb es ihn noch einmal hinaus in den Wald, auf Rat und Hilfe hoffend. Und tatsächlich. Draußen am alten Brunnenhaus schlurfte eine gebückte Alte in weiten, schwarzen Gewändern.
„Warum so betrübt?“ krächzte sie. In der Not schilderte er ihr seine Sorgen. Sie spuckte verächtlich aus: „Wann, sagst Du, hat die Pfalzgräfin empfangen?“ Er nannte das Datum, und die Alte lachte hämisch: „Wer die Natur kennt, weiß, dass die Empfängnis nicht genau zu bestimmen ist. Das Söhnlein kann auch vom Koch sein. Geh und sag genau dies Siegfried. Ich bin sicher, er wird das Weib töten.“
Golo war zunächst sprachlos. Dann bedankte er sich überschwenglich. Und gleich am nächsten Morgen sattelte er sein Pferd und preschte davon, bis er endlich die Türme von Strassburg vor sich sah.
Schnell fand er Siegfried, stöhnte und stammelte, dass er die Nachricht überbringen wolle, dass er erzählen müsse von Genoveva, der Ruchlosen, dass sie einen Sohn geboren habe – vom Koch.
Siegfried stand starr. Doch er glaubte Golo nicht. Der aber hatte vorgesorgt und eine Zauberin bestochen, die dem Grafen ein Bild vorzugaukeln verstand, das Siegfried beinahe um den Verstand brachte: Darauf küsste und liebkoste Genoveva den Koch Drago.
Als er dies sah, wurde Siegfried schamrot, und er presste Worte hervor, ebenso eindeutig wie grausam: „Schaff sie fort. Die Elende. Sie soll mit ihrem Kind eines schimpflichen Todes sterben. Ich will sie nicht mehr lebend treffen.“
Golo frohlockte. Rasch eilte er zurück und zögerte nicht eine Minute, den Befehl auszuführen. „Packt das Weib mit dem Jungen und bringt sie im Wald um“, herrschte er zwei Diener an. „Sie hat ihr Leben verwirkt.“
Die Männer waren entsetzt. Doch es blieb ihnen keine Wahl. Sie führten die Gräfin und den Jungen tief in den Wald. Erst auf einer kleinen Lichtung hielten sie inne. „Hier ist es still und abgelegen“, sagte Felix, der Ältere. „Hier können wir ihr ein Totenbett bereiten.“
Doch als sie Genoveva mit ihrem Söhnchen sahen, still und gottergeben, brachten sie es nicht übers Herz, die Beiden zu töten. „Komm, wir lassen sie einfach hier zurück“, flüsterte Felix seinem Freund zu. „Zum Beweis, dass sie tot sind, zeigen wir Golo die Zunge eines Rehs.“ Dann eilten sie davon und überließen Genoveva ihrem Schicksal.
Wie betäubt schaute sich die Pfalzgräfin um. Nichts als Wald und Wildnis. Und das Schlimmste: Sie hatte keine Milch für ihr Kind. In ihrer Not betete sie Stunde um Stunde zur Jungfrau Maria. Plötzlich knackte es im Geäst. Im späten Licht des Abends stand eine Hirschkuh vor ihr. Sie beäugte Mutter und Kind, legte sich dann friedlich neben die Beiden, und Genoveva ließ das Knäblein an den Zitzen des Tiers saugen.
Fortan lebten sie einsam und abgeschieden, ernährten sich von Kräutern und Früchten des Waldes. Immer an ihrer Seite die Hirschkuh, die sie wärmte, nährte und schützte.
Sechs Jahre und drei Monate zogen so ins Land. Da hörte Genoveva Jagdsignale. Sie stürzte ins Gebüsch und zog ihr Kind hinter sich. Das Treiben kam näher: Entsetzt sah sie, dass ihre Hirschkuh gejagt wurde. Mit einem Satz rettete sich das Tier zur Gräfin ins Gebüsch. Sie stand auf, und sofort blieb auch die Jägerschaft stehen; entdeckte Mutter und Kind.
Siegfried, ihr Anführer, fand als erster Worte: „Wer seid ihr?“ Genoveva schwieg erschrocken. „Schaut mal, sie hat eine kleine Narbe am Hals, genau wie die Pfalzgräfin sie hatte“, sagte ein Gefolgsmann. „Kann es sein, dass dies Genoveva ist?“
Siegfried schaute sie fragend an. Dann erkannte er sie und hörte zitternd ihre Klage. Demütig warf er sich ihr zu Füßen und bat flehend um Verzeihung. Er weinte herzzerreißend, und immer wieder stammelte er, sie solle ihm folgen auf sein Schloss. Er wolle alles, alles wieder gut machen. Doch sie weigerte sich: „Ich komme nur mit, wenn Du mir ein Versprechen gibst: Dies ist der Platz, an dem ich gerettet worden will. Rede mit dem Erzbischof und trage Sorge, dass hier eine Kirche gebaut wird.“
Siegfried sicherte alles zu – glückselig, Genoveva wieder in Armen halten zu können. Und er suchte Rache: Kaum zurück auf Schloss Semmer ließ er Golo suchen und gab einen Befehl: Der Untreue solle mit Beinen und Armen an vier Ochsen gebunden werden, die noch nie im Geschirr gestanden hatten. Kaum war dies geschehen, gingen die Tiere kraftvoll ihres Weges und rissen Golos Körper in vier Teile. Niemand weinte um ihn. Achtlos wurde sein Leib in ungeweihter Erde verscharrt.
Doch das Glück wollte nicht einkehren auf Schloss Semmer. Genoveva war von zarter Gesundheit. Die Jahre in der Wildnis hatten sie überfordert an Leib und Seele. Nur wenige Monde später schlief sie friedlich ein.
Siegfried aber, außer sich vor Trauer, ruhte nicht, bevor ihr letzter Wunsch in Erfüllung gegangen war: Er ließ eine Kirche bauen mitten im Wald – genau dort, wo die Hirschkuh das, was ihm am liebsten war im Leben, so treu behütet hatte.

Foto: Holger Bernert, Rheinland-Pfalz Tourismus GmbH

 

 

12 Gedanken zu “Der Teufel mit dem Engelsblick

  1. Es ist immer wieder erstaunlich wie schnell vorgeblich „Liebende“ zugunsten nur einer einzigen Meinung ihre ach so „Geliebten“ bereit sind über den Deister zu schicken. Ist echt ermutigend: ein blödes Gerücht und schnippschnapp : Rübe ab, Kuschelkurs beendet. Siegfried war ein frommes Ekelpaket und Golo ein piepcensore und diese Alte muss auch ein Kerl gewesen sein oder zumindest schwer sozialneidisch. Maria & Co. Raufen sich bis heute die Haare über so ein Vollmaß männlicher Geringschätzung.
    Puh, jetzt brauch ich Kaffee. Das war echt hard stuff.
    Liebe Neujahrgrüße,
    Amélie

  2. Arme Genofefen…die tut mir halt Leid. Und immer leuchtet Schopenhauers Frauenansicht durch: dümmlich, denkunfähig und von Grundauf verderbt. Ja, Alraune, Amélie kocht kalte Flammen wie spanische Gerichte, Gebackenes Eis, so.
    Frauen in dieser Zeit waren Spielbälle des Papitracharts Diese Erzählung zeigt dies deutlich auf. Jeder liest es so und denkt: wow tolle Kirche, wow, Siegfried. Nee. Der war nicht toll und die Kirche ist der frömmelnde Gewissensbiss eines Todsünders. Und der Papst Franziskus haut Fromm-Frauen. Unsere Zeit ist auch deutlich.

    1. Danke für Deine klaren Worte. Ich habe die Geschichte bisher vor allem als Überlieferung gesehen. Aber welches Gruselfrauenbild sich da abzeichnet unter dem Deckmantel der frommen Seele regt wirklich zum Nachdenken an: Wie viel dieser Last schleppen wir noch heute mit uns rum?

      1. Darauf wollte ich Dich gerne aufmerksam machen…es ist eine zutiefst böse Geschichte und diese Kirche betrachte ich mit tiefem Schauder.
        Es ist die Stille Akzeptanz, das, was du als Frau zu überlesen geneigt bist….
        Weil du es als selbstverständlich erachtest, dass es eben damals „so gewesen ist“. Ich säe nur Zweifel und Leuchte fiese böse Ecken aus…

      2. Liebe Alraune, fein, dass Du Dich in mein Kinderkönigreich gesellst. Lese Dich gerne und bin schon länger deine Folgefee,
        Liebe Grüße,
        Amélie

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