Ich kann die Liebe sehen

Im diffusen Morgenlicht hocke ich auf einem Kissen und schaue auf die Patchworkdecke. Meine Mutter hat sie genäht, vor zwei Jahrzehnten. Wie viel Liebe, wie viel Energie, wie viel Sorge, wie viel Freude, wie viel Hoffnung sind in diese Stoffquadrate verwoben? Ihre Gedanken waren fast immer bei uns, sie spürte unseren Wegen nach, dachte an die Enkel, wünschte uns eine reiche Zukunft, während sie diese Decke nähte. In jedem der türkis-grünen Quadrate meine ich, sie bei der Arbeit zu sehen, und ich streichele über den zarten Stoff, fühle Energien, die niemals verfliegen werden, zumindest solange ich lebe. Diese Decke ist unser Band, je mehr ich es spüre, desto enger wird es.

Ich richte mich auf und fröstele, lege mir eine Stola um die Schultern. Schwiegermutter Ruth hat sie mir geschenkt, als ich sehr krank war. Mittlerweile hat das weiche Cashmere ein paar Mottenlöcher, aber niemals werde ich es entsorgen. Es wärmt mich und lässt mich erinnern an ihre zurückhaltende, freundliche Unterstützung. An ihre Sorge. Ihre Angst um mich. In diesem Raum bin ich von zwei fürsorgenden Müttern umgeben.

Es gibt Geschenke, die Geschichten erzählen, und immer wieder neue Farben ins Leben weben. Es gibt Geschenke, die unvergänglich sind, weil sie mehr sind als ein Stück Stoff.

Ich bin voller Dankbarkeit, denn ich kann die Liebe sehen.

9 Gedanken zu “Ich kann die Liebe sehen

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