Vorbei, verweht, nie wieder?

Es ist schön, in Gedichten zu schwelgen, die mir zugesandt worden sind. Diesmal ist Meister Tucholsky an der Reihe. Sein Bummel durch die Stadt hinterlässt viele Gedanken, zumal in Zeiten, in denen nur noch das Schauen unverfänglich ist. Stärkt das die Beobachtungsgabe oder schwächt es sie? Ich neige zu Ersterem.

Augen in der Großstadt

Kurt Tucholsky

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück…
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück…
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du musst auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

9 Gedanken zu “Vorbei, verweht, nie wieder?

  1. Ein Kurt Tucholsky hat immer Saison, ist immer ein Genuss, der geht und kann immer –
    ist dabei nie ein Muss.
    Jetzt schwärme ich schon wieder
    vom Tucholsky
    wie eine Dichterlärge und reime
    (janz ordinär)
    auf Schluss zur Muse den…
    nein nein!
    Doch nicht Verdruss!
    Das andere.

    —-

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s