Gegen die Wand

Es war ein merkwürdiger Moment: Gestern traf ich eine Freundin im Supermarkt. Eine Kasse trennte uns, und normalerweise wären wir aufeinander zugegangen und hätten uns umarmt. Jetzt aber zögerten wir, schauten ratlos, ja, ein wenig hilflos und fragten über die Kasse hinweg, wie es uns gehe. Viel mehr als ein Schulterzucken war nicht möglich. Normalerweise hätten wir uns verabredet, zum Essen gehen, zu einem Kinobesuch, zum Kaffee trinken. Doch wir zögerten, sagten schließlich einfach „Bleib gesund“ und lächelten uns zu, als trenne uns eine unsichtbare Wand.

Wenig später beim Bäcker bestellte ich meine Brötchen tatsächlich hinter einer Plexiglasscheibe, und auch der Apotheker hatte schon vorgesorgt und eine Scheibe über die Theke zwischen ihn und die Kunden gehängt.

Diese Wand ist jetzt unser Alltag, gefühlt oder ganz real. Niemand hat sie besser beschrieben als Marlen Haushofer. Beängstigend ihre Romanidee, eine Frau allein in einer Waldhütte auszusetzen ohne eine Möglichkeit des Entkommens: In dem Roman „Die Wand“ umgibt tatsächlich eine Wand aus Glas ihr Terrain, kein Ausweg, nirgends.

Ich habe das Buch gestern noch einmal aufgeschlagen und auf Anhieb diese Stelle gefunden. Mir war, als spreche Marlen Haushofer von meinem neuen Alltag:

Die Wand ist so sehr ein Teil meines Lebens geworden, dass ich oft wochenlang nicht an sie denke. Und selbst wenn ich an sie denke, erscheint sie mir nicht unheimlicher als eine Ziegelwand oder ein Gartenzaun, der mich am Weitergehen hindert. Was ist denn auch so Besonderes an ihr? Ein Gegenstand aus einem Stoff, dessen Zusammensetzung ich nicht kenne. Derartige Gegenstände hat es in meinem Leben immer mehr als genug gegeben. Durch die Wand wurde ich gezwungen, ein ganz neues Leben zu beginnen, aber was mich wirklich berührt, ist immer noch das gleiche wie früher: Geburt, Tod, die Jahreszeiten, Wachstum und Verfall. 

Heute ist übrigens der Todestag von Marlen Haushofer. Sie starb am 21. März 1970 in Wien.

12 Gedanken zu “Gegen die Wand

  1. Liebe Alraune, an „Die Wand“ habe ich gestern auch gedacht, danke auch für den zitierten Absatz, der so treffend ist!
    Gutes dir.
    Herzlichst, Ulli

    1. Danke für Deinen Kommentar. Es ist schön und tröstlich, wenn Gedanken gleich schwingen – über alles Fremde und Unbekannte hinweg. Alles Liebe Ulrike, übrigens bin ich in der Kindheit und Jugend nur Ulli genannt worden.

  2. Ich hab das Buch da, aber noch nicht gelesen. Allerdings hatte ich mir die Verfilmung angeschaut. Sehr sehr eindrucksvoll – aber als Vergleich hinkt es für mich sehr, denn der Normalo hat ja trotz Abstand noch genug Kontakt und Möglichkeiten jenseits der Einsamkeit der Protagonistin. Sie hatte ja niemand zum reden oder sonstwie austauschen…

  3. Schön, wieder von Dir zu lesen, madameflamusse. Sicherlich lässt sich das nicht eins zu eins übertragen. Mir geht es um das Gefühl, dieses Gefühl der Isolation gegenüber vielem von Menschen Gemachten, was uns jetzt begegnet. Ich fühle diese unsichtbare Wand, wenn ich jemandem begegne und hilflos zögere, ihm oder ihr näher zu kommen. Ich fühle die Wand in den Supermärkten mit all den Warnhinweisen und auf den menschenleeren Straßen. Nur in der Natur fühle ich sie nicht. Und das gilt auch für die Protagonistin von Marlen Haushofer. Das Zitat, das ich aus ihrem Buch genommen habe, unterstreicht zudem den radikalen Wandel des Lebens. Und den fühle ich auch.

  4. Beim Lesen Deiner Zeilen habe ich Gänsehaut. Auch ich habe in den letzten Tagen oft an „Die Wand“ denken müssen. Und ersehe aus den Kommentaren, da hat sich ein Feld geöffnet, in dem wir viele sind. Danke für Deine Gedanken dazu!

    1. Vielen Dank für Deine Reaktion. Wir denken zusammen, auch wenn eine große Verunsicherung dabei ist, erscheint mir dies wohltuend. Es ist doch interessant, dass ein Buch und sein Rätsel plötzlich wieder ins Blickfeld rückt – bei vielen von uns. Als ich den Roman vor Jahren gelesen habe, fand ich die Plot-Idee atemberaubend, hatte aber Schwierigkeiten mit der Interpretation. Nun erlebe ich eine mögliche Aussage. Was will mir die Autorin sagen? Ich glaube, es jetzt zu wissen.

  5. Der Roman als auch der Film sind tatsächlich sehr beeindruckend. Allerdings ist die Protagonistin bei Marlen Haushofer wirklich „gefangen“ und zwar ohne Kontakt nach draußen und ohne irgendeinen Ausweg zu finden, während eine Plexiglasscheibe doch sehr leicht zu umgehen oder sogar wieder abzuhängen ist.
    Viele Grüße von Rosie

    1. Danke für Deinen Kommentar. Ja, wir sehen es unterschiedlich. Die derzeitige Trennung von Mitmenschen ist für mich gravierend, und auch die Änderung der Lebensumstände – von einem Tag zum anderen. Merkwürdig.

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