Schneewittchen stirbt im Netz

Für eine Ausstellung im Park von Burg Gladbach habe ich einen Text geschrieben, der das Märchen „Schneewittchen“ in die Gegenwart katapultiert. Hier geht es nicht um die reaktionäre Idee, dass ein Prinz kommt, der Schneewittchen glücklich macht. Vielmehr sucht das Mädchen selbst seinen Weg hinaus aus der Zauberwelt von Instagram und Co.  Auf der Reise begegnet sie – wie Schneewittchen – der Mutter, der Stiefmutter, dem Jäger und den Zwergen. Aber sie erkennt: Alle Personen sind Teil ihres Selbst. Sie ist einsam, rachsüchtig, ängstlich, mordlüstern und gleichzeitig voller Empathie, Sehnsucht und Liebe:

Es ist dunkel, nur der Bildschirm schickt ein stoisches Blau in den Raum. Unsicher schaut sie auf ihre Selfies: Zum ersten Mal zeigt sie sich fast nackt im Netz, offen für durstige Blicke. Lasziv liegt sie auf ihrem Bett, der Mund ist rot geschminkt, die Haut weiß, schwarze Locken umschäumen ihr Gesicht. Rot wie Blut, weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz. Schneewittchen.

Schneewittchen: Acrylplatte von Markus Bollen.

Wer ist die Schönste im ganzen Land? Sie lacht bitter. Wie oft hat sie in den Spiegel geschaut, als Teenager voller Zweifel und Fragen. Sie scrollt ihre Instagram-Bilder. Schön sind sie, zweifellos, aber schön genug? Ist Enrika schöner? Taillenlanges, blondes Haar bedeckt ihren Körper. Provozierend lächelt sie in die Kamera. „Heute schon genascht?“, hat sie frech unter ihre Fotos geschrieben. Das bringt Herzen und Follower. Sie spürt den Schmerz des Neids mit diesem Beigeschmack von Wut. Am liebsten würde sie hämische Kommentare posten, das Mädchen lächerlich machen im Netz.
Sie schämt sich ihrer Gefühle und sucht nach Influencern. Was machen sie besser, was könnte sie nachahmen? Lachende Gesichter, Kosmetikartikel, Kleider. Wer ist die Schönste im ganzen Land?
Am Anfang war es ein Spaß. Sie war überrascht von der Vielfalt der Postings, freute sich über die unterschiedlichen Temperamente. Irgendwann schuf sie sich ihren Avatar und zog als „Schneewittchen“ durchs Netz. Dankbar für die Anonymität wurde sie mutiger. Als sie begann, Selfies zu posten, stieg die Zahl ihrer Follower.
Kling. Der Computer hat eine Nachricht geschickt. Ein Lockruf von Enrika. „Wollt ihr mein neues Appartement sehen?“ Schneewittchen schaut in eine gestylte Welt voller Eleganz und Präzision. „So gut werde ich mich niemals präsentieren können. Ich hasse diese Frau. Sie schnürt mich ein und vergiftet mein Leben.“

Schneewittchens Schuhe: Skulptur von Trudel Lindauer.

Erschöpft legt sie sich aufs Sofa. Nur noch schlafen möchte sie und vergessen, doch ihre Gedanken drehen sich im Kreis, bis sie endlich einnickt: Im Traum sieht sie die Einsamkeit der Mutter, die Stiefmutter, die ihr den Konkurrenzkampf aufzwingt und den Jäger, der sie ins Dickicht ihrer Gefühle führt. „Das alles bist Du“, flüstern die Zwerge. „Alles ist in Dir. Deine Seele ist einsam und sehnsüchtig, aber auch hartherzig und eitel. Ja, du bist sogar bereit, zu töten, dich selbst und andere.“
In einer Reihe stehen sie, stolze kleine Männer, und bedrängen sie mit Fragen: Was unterdrückst Du? Wovor fürchtest Du Dich? Warum suchst Du das Leben nur in anderen? Was tust Du, um deine Wünsche zu leben? Warum fürchtest du den Jäger? Warum bist Du gierig nach Applaus? Warum verschenkst Du Dich an eine Maschine?
„Du trägst die Farben der Großen Mutter Natur“, sagt der Kleinste. „Neben dem unschuldigen Weiß steht das Schwarz der Dunkelheit und das Rot der Leidenschaft. Lebe diese Farben. Vergifte Dich nicht selbst. Es gibt Millionen Bilder. Sei achtsam und suche Deine eigenen.“

„Ruf des Lebens“: Bilder von Caroline Lauscher.

Das Handy klingelt. Erschreckt fährt Schneewittchen hoch und schaut auf das Gerät. Andrea. Eine Schulfreundin, die sie gemieden hat, weil sie nicht mit ihr in den Netzwerken kommunizieren wollte, hinterlässt eine Nachricht: „Für eine Theateraufführung werden Tänzerinnen gesucht. Lass uns das machen. Es wird ein Spaß.“
Was war das? Ein Engel? Ein Tagtraum? Ein Trugbild? Sie kann es kaum glauben: Andrea hat angerufen. Schmerzhaft spürt sie ihre Einsamkeit und ihre Sehnsucht nach Nähe und Zuwendung.
Schwankend steht sie auf, geht ins Badezimmer und genießt das heiße Wasser unter Dusche. Nackt kehrt sie  zurück, schaut lange auf den Bildschirm und löscht dann entschlossen ihre Accounts. Alle. Still beobachtet sie, wie dieses Mädchen mit den schwarzen Locken und den roten Lippen verlöscht. So weiß wie Schnee, so rot wie Blut, so schwarz wie Ebenholz. Schneewittchen stirbt im Netz.
Dann nimmt sie ein Blatt Papier und schreibt:

Liebes Schneewittchen, heute muss ich Abschied  nehmen. Ich will nicht mehr schöner, besser, größer sein. Wer hat mir diesen Unsinn erzählt? Ich will nicht mehr mein Leben damit verbringen, auf Bildschirme  zu starren. Ich will sein in dieser Welt mit allem, was mich ausmacht. Viel zu lange habe ich in einer Glasglocke gelebt. Abgeschnürt von den anderen. Ein verlorenes Leben. Schneewittchen, irgendwo tief in mir wirst Du immer lebendig sein, aber Du bist nur eine meiner Seiten, es gibt viele andere, liebevolle, bunte, wilde, stürmische, lebendige, kreative, witzige, traurige, zärtliche und kühne. Ich will sie alle leben. Und ich will mit Andrea tanzen, ganz ohne Neid. Du bist lange an meiner Seite gewesen, liebes Schneewittchen, beinahe hätte ich mich in Dir verloren, aber jetzt will ich ganz sein. Ganz „ich“ sein. Leb wohl.
Übrigens: Ich heiße Sophia. Wusstest Du das?

Märchenwesen im Park von Burg Gladbach: Gruppe „Pantao“.(Das oben abgebildete Gemälde im Park hat Markus Bollen erschaffen.)

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