Die Dämonen füttern

Im Roman „Frau Kassel will Wunder“ ist die Protagonistin wild entschlossen, alles mögliche auszuprobieren, was ihr helfen könnte, wieder gesund zu werden. Zur Seite steht ihr Paul, mit dem sie eine launige E-Mail-Korrespondenz führt. Hier mal ein Auszug:

17.15 Uhr:
Oh, je
Hey, lieber Paul. Was ich Ihnen noch gar nicht gesagt habe: Fragen Sie mich bloß nicht warum, ich zweifle langsam selbst an meinem mir bisher so klar erschienenen Verstand, aber in meiner Heilungssehnsucht war ich bei einer Geistheilerin mit dem schönen Namen Emma und habe außerdem noch einen Fernheiler engagiert, dem ich allerdings jetzt den Laufpass geben werde. Heute Abend um acht haben wir wieder ein telepathisches Meeting. Aber das ist mir eher unangenehm. Ich weiß nicht, wie ich ihn honorieren soll, und irgendwie komme ich mir komisch vor, jeden Abend um acht an einen Mann mit sonorer Stimme zu denken, der dann wohl auch an mich denkt. Ich jedenfalls spüre nichts. Hören Sie? Nichts! Charlotte.

17.30 Uhr:
Re: Oh, je
Dass Sie nichts spüren, ist ja furchtbar. Was könnte furchtbarer sein? Charlotte, wenn Sie nichts spüren, sind Sie tot! Hey, was haben Sie gemacht? Und: Bleiben Sie um Gottes willen dem Fernheiler treu. Die Bezahlung ist doch das Letzte, was in diesem Zusammenhang wichtig ist. Im Übrigen habe ich im Internet beim Geistheiler-Dachverband gelesen, dass es den seriösen Könner auszeichnet, die Bezahlung dem Patienten zu überlassen. Also, Ihr Mann scheint in Ordnung zu sein. Paul

18.16 Uhr:
Re: Oh, je
Warum ich so oft nichts fühle? Ich weiß es nicht, vielleicht wollte ich irgendwann keine Schmerzen mehr fühlen, keine Sehnsucht, keine Angst. Ja, das kann gut sein. Ich hab mich dann in Arbeit gestürzt. Das lenkt ab. Zumal: Nüchterner und zielorientierter als die Kanzleiarbeit kann kaum etwas sein. Und der Fernheiler: Na gut, meinetwegen. Der strukturiert den Tag – wenn auch mit einer gewissen Leere.

18.32 Uhr:
Re: Oh, je
Liebe Treppennachbarin. Also, Fernheiler, erst mal nicht mehr umstritten. Wunderbar. Und dann: Der Kampf ist das Beste, was uns passieren kann, der Kampf mit den Schmerzen. Wir müssen sie fühlen, spüren, anschauen – genau wie das Glück. Das ist Leben. Die Tibeter haben eine schöne Übung: Sie spüren ihre Dämonen, die sie quälen, auf, setzen sie auf einen Altar und füttern sie bei Tag und Nacht, um mehr zu fühlen, mehr zu erfahren, mehr zu leben, Charlotte. Auch im Schmerz leben wir, gerade im Schmerz. Wir sind doch nur deshalb so verbittert und enttäuscht, weil wir versuchen, Tod, Schmerz, Furcht und Hunger einfach auszuklammern. Wir tun so, als wenn wir uns davor schützen könnten, indem wir einfach nicht daran denken wie das Kind, das die Augen schließt und meint, es würde nicht mehr gesehen. Gesundheit und Vollkommenheit: ja. Schmerz: nein. Das Einzige, was wir damit erreichen ist, dass wir uns in zwei Teile spalten und nicht leben. Paul   

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