Den Steppenwolf unterm Arm

Irgendwie erinnert mich die Klause hier in Nettersheim an den Anfang meiner Berufsjahre, als ich in einer Anwaltskanzlei im Oberbergischen hospitiert habe. Weil ich dort auf keinen Fall lange bleiben wollte, hatte ich mir ein möbliertes Zimmer gemietet, irgendwo am Rande von Gummersbach.

Gott, war ich einsam.

Damals hatte ich Hesses  »Steppenwolf« unterm Arm, wo immer ich hin ging. Ich versank im Traktat dieses Sonderlings, verachtete wie er die Bürgerlichkeit und fühlte mich doch zu ihr hingezogen, genau wie er, der beim Anblick einer stacheligen Araukarie, die, sorgfältig abgestaubt und penibel gepflegt, im Flur einer Nachbarin stand, von einem Glück träumte, das ihm niemals hold sein würde, diesem satten Glück des Bürgers, der nichts hinterfragt, und seine Zweifel mit dem Staubsauger verwirbelt.

Jetzt, lieber Paul, sitze ich wieder in solch einer Bude. Ich bin wieder ganz schön einsam. Unwohlsein kriecht hoch. Ein Unwohlsein, das ich in den letzten Jahrzehnten gut unter der Schreibtischauflage versteckt hatte.

Und das Schlimmste: Ich bin mittlerweile fast 52, was irgendwie unübersehbar ist, aber tief drinnen fühle ich mich noch immer wie diese 28-jährige hungrige Frau, die mit diesem Hesse unterm Arm vor »dem strammen Kinderbaum« einer Nachbarin sitzt und sich verzweifelt fragt, wie es ihr gelingen könnte, ihre vielen Seelen in der Brust in Einklang zu bringen und ein völlig selbstbestimmtes Leben zu führen, die aber gleichzeitig nach dieser bürgerlichen Bräsigkeit sucht, einer Bräsigkeit, die keine großen Ideen braucht, keine Fragen stellt und einfach lebt, eine Araukarie abstaubend zufrieden lebt.

Aus dem Roman: Frau Kassel will Wunder

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